In einem früheren Beitrag habe ich aufgezeigt, wie auf die Jahre des Aufschwungs der Villa Kinsele eine Periode des Niedergangs folgte. Ob der Grund dafür im mangelnden Interesse an der Sommerfrische von Seiten der Eigentümer oder – was plausibler ist – in einer Verschlechterung der finanziellen Situation zu suchen ist, vermag ich nicht mit Sicherheit zu sagen.
Tatsache ist jedenfalls, dass die Familie Kinsele ihr Sommerhaus nicht mehr bewohnte und es ganzjährig zur Vermietung anbot (Abb. 1). Ob in all den Jahren bis zum Verkauf 1943 Mieter gefunden werden konnten und wer diese waren, wird nicht mehr zur Gänze ermittelbar sein. Von einer Familie wissen wir jedoch, dass sie das Haus bewohnte, denn die Eheleute waren die bedeutenden Wissenschaftler Bronisław Malinowski und seine erste Frau Elsie R. Masson.
Abb. 2: Das Bild zeigt die Familie Malkinovski auf dem Platzl vor der Villa Kinsele (Wayne 1995). Am rechten Bildrand sieht man den zweiten Kastanienbaum, der in den 20er- oder 30er Jahren entfernt wurde und einen kleinen Teil des Daches der Villa Amalia des Pobitzer, welches die Malinowskis im Jahre 1923 erwerben werden .
Bronisław Malinowski (geboren 1884 in Krakau, gestorben 1942 in New Haven) gilt als einer der Begründer der modernen soziokulturellen Anthropologie, seine ethnographische Methode ist bis heute ein wichtiger Bezugspunkt. Man sagt, er sei für die Anthropologie das gewesen, was Freud für die Psychoanalyse war. Während seiner Studienaufenthalte in Ozeanien lernte er seine spätere Frau, die australische Journalistin Elsie Masson (geboren 1890 in Melbourne, gestorben 1935 in Natters), kennen, die ihren Mann nicht nur tatkräftig unterstützte, sondern auch eigenständige Studien betrieb (Salvucci 2021).
Nach Aufenthalten in England, auf den Kanarischen Inseln, in Frankreich und Polen zogen die Malinowskis auf Anraten von Wiener Freunden auf den Ritten. Ausschlaggebend war nicht nur das Klima, von dem man sich positive Auswirkungen auf die tatsächlichen (Elsie) und vermeintlichen (Bronisław) gesundheitlichen Probleme erhoffte, sondern auch die Tatsache, dass Bozen und die Südtiroler Berge den inzwischen bekannten Anthropologen an Krakau bzw. die Hohe Tatra seiner Kindheit erinnerten. Zudem war Bozen finanziell deutlich günstiger als die Alternative London (Reiner 2016).
Abb. 3: Ausschnitt aus dem “Tiroler Volksblatt” vom 11.8.1923. Am Ende des Beitrags wird über den Besitzwechsel von Pobitzer zu Malinowski berichtet. Ich habe den Artikel vollständig wiedergegeben, damit man auch die Summen der anderen Transaktionen sehen kann. Die 35.000 Lire waren im Vergleich eine doch hohe Summe, was auf die Begehrlichkeit des Hauses und dessen Lage in Oberbozen hindeutet. Laut Salvucci (2023) wurden fast 19.000 Lire nochmals für die Renovierung und Adaptierung ausgegeben. Aus der stattlichen Summe lässt sich schließen, dass das Haus deutlich den Vorstellungen der neuen Eigentümer angepasst wurde.
Im Oktober 1922 mieteten sie sich “… in einem alten gemauerten Haus nahe der kleinen Dorfkirche Maria Schnee ein, wo sie den Winter 1922-23 verbrachten, wieder mit zwei Bediensteten.” (Wayne 1995). Burke und Ulrich (2023), die Enkel, geben an, dass die Familie “the Kinsele Haus” bewohnte. Da Anton und Fanny Kinsele ihr Haus in Maria Schnee 1920 an Karl und Maria Weger verkauft hatten, kann nur jenes von Cousin Robert Kinsele in Frage kommen. Schließlich hat Salvucci (in Vorbereitung) in dessen Nachlass einen Briefwechsel zwischen Bronisław Malinowski und Anton sowie Robert Kinsele gefunden, welcher die Vermietung der Wohnung im Kinselehaus zum Gegenstand hatte. Der Rechtsanwalt Anton Kinsele vertrat übrigens mehrere Jahre lang Malinowskis Interessen in Südtirol (Wayne 1995).
Abb. 4: Das Malinowskihaus heute nach der letztlich durchgeführten Renovierung des Daches, auf dem eine Photovoltaikanlage installiert wurde, von Osten aus gesehen. Im Wesentlichen ist das Haus über die Jahre unverändert geblieben. Links davon, halb verdeckt, das Eccel-Haus. Auch mit dieser Familie pflegte Elsie Masson eine gute Nachbarschaft (Salvucci 2023).
Der Ritten schien der Familie Malinowski auch für einen längeren Aufenthalt ideal zu sein, weshalb sie mit dem Erwerb der benachbarten Villa Amalia liebäugelten, die der Bozner Rechtsanwalt Benedikt Pobitzer zum Kauf angeboten hatte. Ihr Wiener Freund Paul Kuhn ermutigte sie dazu und half ihnen auch, die hohe finanzielle Hürde (Abb. 3) des Kaufs und Umbaus zu überwinden (Wayne 1995). Für die nächsten drei Jahre bewohnten Elsie und ihre drei Töchter Józefa, Wanda und die 1925 geborene Helena das Haus am Ritten ganzjährig, von 1926 bis zur Übersiedlung nach London 1929 nur im Sommer, die übrige Zeit verbrachten sie in Gries bei Bozen, wo sie zuerst die Villa Elisabeth und später die Villa Marienheim gemietet hatten. Der Gesundheitszustand der Ehefrau hatte sich weiter verschlechtert, sie litt an Multipler Sklerose. Bronisław hingegen kam nur in den großen Ferien nach Gries und Oberbozen, er arbeitete und hielt sich zuerst als Lektor, dann als Universitätsprofessor in London auf (Burke und Ulrich 2023).
Abb. 5: Die Villa von Nordosten gesehen.
Das doch stattliche Haus mitten im Grünen mit der großen Veranda und dem beeindruckenden Blick auf die Dolomiten wirkte sich befruchtend auf die Arbeit des Forscherpaares aus. Es bot den Malinowskis auch die Möglichkeit, Gäste zu empfangen. Salvucci zeigte 2023 auf, wie viele Studenten und Studienkollegen in den Oberbozner Jahren zu Gast waren und wie der Tagesablauf gestaltet war. So mancher Gast trat später erfolgreich in die Fußstapfen seiner Gastgeber. Untergebracht waren die Gäste im Widum bei der Kirche Maria Himmelfahrt und in der Pension Pattis, gleich gegenüber der Villa Malinowski.
Abb. 6: Die stattliche nach Süden geöffnete Veranda und der darüber liegende großzügige Balkon prägen das Gebäude funktional und ästhetisch. Rechts im Hintergrund die Villa Pattis.
1929 übersiedelte die Familie ganz nach London, verbrachte aber die Sommer weiterhin in Oberbozen. Ab 1934 war auch dies auf Grund der immer weiter fortschreitenden Krankheit von Elsie, die inzwischen auf den Rollstuhl angewiesen war, nicht mehr möglich, weswegen das Haus, das inzwischen als Malinowski-Villa bekannte war, an das Bozner Ehepaar Schulzinger vermietet wurde (Wayne 1995). 1935 starb die immer schwächer gewordene Elsie im Alter von nur 45 Jahren während eines Kuraufenthaltes in Natters bei Innsbruck. Bronisław zog mit den Töchtern noch vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in die USA, wo er einen Lehrstuhl an der Universität Yale angeboten bekommen hatte. Er starb unerwartet 1942 in New Haven, nachdem er 1940 seine zweite Frau, die junge britische Malerin Valetta Swann, geehelicht hatte (Salvucciet al. 2022).
Abb. 7: Annonce in der Alpenzeitung vom 7.10.1926. War das “y” am Ende des Familienamens absichtlich oder ein Fehler der Anzeigennahme? Das Verbot der deutschen Ortsnamen hatte schon gegriffen: Soprabolzano.
Während des Zweiten Weltkrieges wurde das Haus beschlagnahmt (Abb. 8), nachdem Großbritannien – die Malinowskis waren inzwischen englische Staatsbürger – zum Kriegsgegner Italiens geworden war. Nach Kriegsende wurden die Besitzverhältnisse wiederhergestellt und das Haus an die Nachkommen, inzwischen im Enkelgrade, vererbt.
Abb. 8: Meldung in den “Dolomiten” vom 3. August 1940. Mittels der Presse wurde in mehreren auf das Jahr 1940 verteilten Berichten der Bevölkerung mitgeteilt, wer die von der Beschlagnahme betroffenen ausländischen Bürger waren. Unter Punkt “s” ist Bronisław Malinowski angeführt.
Die für diesen Bericht verwendete Literatur ist umfangreich. Eine wahre Fundgrube für alle, die mehr über diesen bedeutenden Kulturanthropologen wissen wollen. Sehr interessant ist auch nachzulesen, wie besonders Elsie Masson, die ja viel mehr Zeit in Südtirol zugebracht hatte als ihr Mann, ihre Umgebung aus gesellschaftlicher, historischer und politischer Perspektive bzw. aus der wissenschaftlichen Distanz und der alltäglichen Nähe, erlebt und verschriftlicht hat. Sie bekam die Entnationalisierungsaktionen der faschischtischen Regierung unmittelbar mit und hat deren Taten mehrmals auch publizistisch angeprangert (Masson 1923).
Abb. 9: 1993 ließ der Heimatpflegeverband an der Nordseite des Hauses diese vom Spazierweg aus ersichtliche Gedenktafel aus Porphyr anbringen.
Elisabeth Tauber und Dorothy Zinn, soziokulturelle Anthropologinnen an der Freien Universität Bozen, haben es als notwenig erachtet, auf die Geschichte Malinowskis und seiner Familie in Südtirol aufmerksam zu machen und gründeten 2016 das Malinowski Forum for Ethnography and Anthropology. Seitdem fördert das MFEA nicht nur die Forschung zu Malinowski und seiner Frau Elsie Masson, sondern hat sich auch von Malinowskis Anwesenheit in Südtirol anregen lassen, Gespräche über aktuelle anthropologische Theorien und Methoden zu führen. Ein weiteres Ziel des MFEA ist es, die Alpen als Forschungsregion ethnographisch wieder vermehrt in den Blick zu nehmen. Für das Malinowski-Forum fun-giert Malinowski daher weniger als inhaltlicher Bezugspunkt für die alpine Anthropologie als vielmehr als Eponym, das vom wissenschaftlichen Komitee in Zusammenarbeit mit den beiden Ko-Koordinatorinnen entwickelt wurde. Derzeit arbeitet das Malinowski-Forum an zwei Bänden zu Malinowski in den Alpen beziehungsweise zur Bedeutung der ethnographischen Methode für die Forschung in den Alpen, die 2022 erscheinen werden. Der erste Band beschäftig sich mit Malinowskis feinsinnigem Erbe in Geschichte und Ethnographie der Alpen, während der zweite Band neuere Beiträge versammelt, die die von Malinowski begründete, ethnographische Methode zur Erforschung der Alpen auf sehr unterschiedliche Weise anwenden.
Ein herzlicher Dank geht an Daniela Salvucci von der Freien Universität Bozen, welche mich bei meinen Recherchen zu Malinowski und seiner Beziehung zur Villa bzw. Familie Kinsele tatkräftig unterstützt hat.
In diesem Beitrag verwendete Literatur- und Bildquellen:
Salvucci, D. (2021). Incorporated Genre and Gender: Elsie Masson, Her Writings, and Her Contribution to Malinowski’s Career. In E. Tauber & D. L. Zinn (Eds.), Gender and Genre in Ethnographic Writing (pp. 189–217). Springer International Publishing. DOI: 10.1007/978-3-030-71726-1_8
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert erreicht die Ausdehnung der Kinsel’schen Besitzungen in Maria Schnee ihren Höhepunkt: Die Brüder Richard und Franz Kinsele, Söhne von Alois und Enkel von Franz Sales, lösen ihre Geschwister am Eigentum der Villa ab und erweiteren ihren Besitz an dem Platzl vor dem Haus.
Abb. 1: Ex Libris von Anton Kinsele; er liegt auf der Wiese vor dem heute noch bestehenden Pavillon im so genannten Wegerpark. Die Zeichnung stammt von seiner Cousine Eleonore (Lore) Kinsele. 1920 trennen er und seine Schwester sich von diesem Besitz.
1866 ersteigert Richard Kinsele das angebaute, ältere Sommerfrischhaus von Maria Schnee (wir heißen es immer noch Wegerhaus) und verkauft 1873 an den Bruder Franz seinen Anteil an der Villa Kinsele. Aus dieser Zeit dürfte auch die Tür stammen, welche die beiden Villen direkt verband und wir, inzwischen zugemauert, vorgefunden haben. Das Sommerrefugium, dessen Eigentümer vormals die Familien Menz, Grätzl und Kofler waren, vererbt Richard an seine beiden Kinder Anton und Franziska (Fanny). Diese, beide kinderlos, verkaufen es 1920 an die Familie Weger. Eine weitere Erweiterung erfährt die Villa Kinsele 1880, als Franz auch die untere Wiese samt Gemüsegarten erwirbt. Wann die obere Wiese dazukam, weiß ich noch nicht, 1866 scheint sie noch dem Doppelbauern gehört zu haben, siehe Hinweis in Abbildung 2.
Abb. 2: Versteigerungsedikt, veröffentlicht in der “Bozner Zeitung” vom 6.6.1866. Diese Verlautbahrung ist schon deshalb siedlungshistorisch wertvoll, weil man dadurch u.a. erfährt, wer zu diesem Zeitpunkt Eigentümer der angrenzenden Liegenschaften war.
In den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts, als der Anschluss des Rittens an das Verkehrsnetz immer wahrscheinlicher wurde, ließ Franz Kinsele das Haus durch den Einbau von Täfelungen und eines Kachelofens ganzjährig bewohnbar machen (ich berichtete hier). Spätestens zu diesem Zeitpunkt verschwanden die barocken Deckenmalereien in drei Räumen unter Holz und Mörtel. Nach seinem Tod im Jänner 1908 erbte sein Sohn Robert das Haus, seine Stiefmutter Aloisia von Rehorovszky hatte jedoch laut Testament ein lebenslanges Fruchtgenussrecht. Als sie 1941 starb, hatte sie ihren Stiefsohn bereits um zwei Jahre überlebt. Der Besitz ging durch Erbschaft auf die beiden Halbschwestern Johanna und Eleonore über, die aber schon seit Jahren im inzwischen von Südtirol abgetrennten Österreich lebten. Sie sahen wegen der großen Entfernung keine Verwendung mehr dafür bzw. konnten sich die Erhaltung des Gebäudes nicht leisten, weshalb sie die Villa Kinsele und die angrenzenden Grundstücke 1943 für 260.000 Lire an meine Großtante verkauften.
Abb. 3: Annonce in den “Bozner Nachrichten” vom 31.1. und 7.2.1915.
Die Familie muss in der Zwischenkriegszeit deutlich ärmer geworden sein, obwohl Robert Kinsele ein angesehener Arzt war. Nur so lassen sich die zahlreichen Hypotheken – in Summe für 55.000 Lire – erklären, die zum Zeitpunkt des Verkaufs auf dem Haus lasteten. Erste Anzeichen von Geldnot sind aber schon früher zu vermuten, denn spätestens 1915 wurde die gesamte Villa Kinsele zur Miete angeboten (Abb. 3).
Abb 4: Auszug aus dem Grundbuch mit den Hypothekarbeslastungen und dem Eintrag der Tilgung durch die Käuferin.
Die Vermietung des Hauses und die damit einhergehende Vernachlässigung der Erhaltung ist sicherlich als negative Entwicklung zu bewerten. Aber gerade dadurch kam die Villa Kinsele mit dem großen Weltgeschehen in Verbindung. In den nächsten Folgen werden wir sehen wie und warum. Es bleibt spannend oder, besser gesagt, es wird spannender.
In diesem Beitrag verwendete Literatur- und Bildquellen:
KG Ritten I, Einlagezahl 132 (Villa Kinsele). (1907). Grundbuch Gerichtsbezirk Bozen.
Unvermutete enthemmte Polarisierung
Category: Bozen
geschrieben von Armin Kobler | 27. März 2025
Abb. 1: Der Titel der besprochenen Publikation.
Sogenannter “Beifang”, das heißt Erkenntnisse, welche von den eigentlichen Zielen abweichen, ist bei den historischen Recherchen unvermeidlich. Wenn man der Versuchung standhält, sich in der Breite zu verlieren, kann wirklich wertvolles Unvermutetes zu Tage treten. Bei meinen Nachforschungen zu Anton Kinsele fand ich letztlich in der volkskundlichen Zeitschrift “Der Schlern” einen Beitrag über die mir bis dahin unbekannten Bozner Studentenkrawalle von 1908, wo der Bozner Rechtsanwalt und Gemeindepolitiker eine unrühmliche Rolle gespielt haben soll.
“Sie [die Episode] könnte mit Schmunzeln übergangen werden, wenn sie nicht ein bestürzendes Maß von Intoleranz und Gewaltbereitschft enthüllte, das auch in gebildeten liberalen Kreisen im Österreich vor dem Ersten Weltkrieg im Allgemeinen und in der Handelsstadt Bozen im Besonderen vorhanden war, und wenn sie nicht bereits die für den Bestand der Monarchie verderbliche Verbreitung eines alldeutschen Denkens in den letzten Jahren des Vielvölkerstaates bewiese.”
Der Autor, der leider schon verstorbene Rainer Seberich, zeigt anhand verschiedener Zeitungsausschnitte, wie das politische Couleur der Schreibenden die Ereignisse unterschiedlich darstellen lässt. Sehr aufschlussreich für das damalige Politikverständnis ist auch der Bericht über die den Ereignissen folgende Landtagsdebatte. Bemerkenswert finde ich, dass damals – wir wissen, dass die Monarchie in dieser Zeit immer mehr nationalen Spannungen und auch gewalttätigen Entladungen ausgesetzt war – man auch innerhalb derselben Volksgruppen gar nicht zimperlich war. Eine unvermutete Parallele zur heutigen Zeit, in der sich die westlichen Gesellschaften immer mehr polarisieren, in den sogenannten sozialen” Netzwerken aufeinander eingedroschen wird und die Grenzen des Sagbaren immer weiter verschoben werden? Ein Unterschied könnte sein, dass die oben genannten Auseinandersetzungen eine kleine Elite als Akteure hatten, während das heutige Internet der breiten Masse die leider allzu oft genutzte Möglichkeit gibt, sich verbal aggressiv zu verhalten, meinte der Historiker Hans Heiss, als ich ihm von diesem Fund und meiner Verwunderung erzählte.
Der sehr lesenswerte Beitrag, der übrigens die Bozner Ereignisse auch in den gesamtösterreichischen Kontext der späten Habsburgermonarchie politisch verortet, kann hier zur Gänze heruntergeladen werden. Der Verlagsanstalt Athesia sei für die Bereitstellung gedankt.
Abb. 2: Die Bozner Bürgersäle, nach Kriegsende abgerissen. Der jetzige Verdiplatz, früher Viehmarktplatz genannt, war, wie man sieht, schon einmal einladender (Bildschirmfoto aus “Schauspielorte in Bozen).
In diesem Beitrag verwendete Literatur- und Bildquellen:
… oder war es doch der Wille der Sommerfrischgesellschaft?
Zu der verkehrsmäßigen Erschließung des Rittner Hochplateus hatten die Bozner Sommerfrischler immer ein gespaltenes Verhältnis. Die Zahnradbahn zuerst, die Seilbahn danach und zuletzt die vollständige Anbindung an das Straßennetz wurden und werden natürlich auch von ihnen in den Sommermonaten genutzt – deshalb auch die Würdigung eines wesentlichen Förderers aus ihren Reihen durch die Schützenscheibe (Abb. 1) . Man wollte aber gleichzeitig weiterhin größtenteils nur unter sich bleiben; Oberbozen sollte ein ruhiges Rückzugsgebiet der dortigen Hausbesitzer bleiben, kein Ort für Touristen oder Zuzügler.
Abb1: Scheibe des Oberbozner Schießstandes: Nr. 111, Jubiläumsfest des Edmund von Zallinger-Thurn 1913. “…der Wasserleitung, Eisenbahn in’s Leben rief: Ein Hoch dem Mann!” (Braitenberg et al. 1994)
Hans von Hoffensthal, hat mit seinem – ich kann es nicht oft genug wiederholen – wunderbar melancholischen Essay “Abschied von Oberbozen” 1907 dieser Haltung ein hervorstechendes Denkmal gesetzt. Ganz so schlimm, wie es der Bozner Dichter voraussah, ist es dann, zumindest was die alte Sommerfrischesiedlung angeht, zum Glück doch nicht gekommen, die Bozner wussten sich zu wehren. Man kann diese Haltung natürlich als opportunistisch, gar als Ausdruck von Snobbismus interpretieren, aber auf diese Weise ist uns allen ein einzigartiges Ensemble mit hohem kulturellen Wert erhalten geblieben.
Anders als, um in der Nähe zu bleiben, Lengmoos und Klobenstein. Dem geübten Blick entgehen dort nicht die größtenteils sogar älteren Sommerfrischbehausungen. Sie sind aber in der Zwischenzeit von anderen Gebäuden umzingelt und in der dörflichen Siedlungsstruktur des Rittner Hauptortes aufgegangen.
Als es in den ersten Jahren nach 1900 darum ging, die “Trace”, wie man damals schrieb, konkret zu planen, galt es natürlich auch,die topografischen Gegebenheiten des Bergrückens und die technischen Möglichkeiten berücksichtigend, zu entscheiden, welche Ortsteile von der Bahn unmittelbar erschlossen werden sollten. Nachdem der erste Trassenverlauf, der über Unterinn und Klobenstein sogar das Rittnerhorn erreichen sollte, verworfen wurde, sollte die Bahn über den Rebhügel von St. Magdalena und ober der Rivelaunschlucht Oberbozen anfahren und dann bis Klobenstein weitergeführt werden. Doch wo und wie intensiv sollte Oberbozen von der neuen Infrastruktur berührt werden? 1904 hat das Aktions-Komitee zur Förderung des Rittnerbahn-Baus eine üppige Broschüre mit viel Text und schönen Illustrationen drucken lassen; aber wo genau die Haltestellen an der Strecke geplant waren, konnten oder wollten die Macher nicht einzeichnen (Abb. 2).
Abb. 2: Schematischer Trassenverlauf der geplanten Rittner Zahnradbahn (Aktions-Komitee 1904)
Nicht die gesamte Sommerfrischegesellschaft stand der Erschließung negativ gegenüber. Laut Demar (2007) forderten während den Bauverhandlungen Alois v. Mackozitz und Anton von Walther auch im Namen von anderen Oberbozner Hausbesitzern eine Haltestelle in erreichbarer Nähe. Schlussendlich endete die Zahnstange, wo also die Schublok ab- und angekuppelt wurde, zwischen Maria Himmelfahrt und St. Magdalena, etwas unterhalb der Häusergruppen. Passagiere konnten dort zwar aus- und einsteigen, die Struktur wurde aber bewusst klein gehalten. Auch wenn sie gleistechnisch 1909 erweitert wurde, ihr Name blieb “Haltestelle Himmelfahrt”, nicht Bahnhof!
In Maria Schnee, auf der Hoferbreiten, entstand dann der erste komplett ausgestattete Bahnhof der Strecke nach Bozen, mit gemauertem Gebäude, großzügiger Passagieraufnahme, Warteraum und auch einer Verladerampe samt Schuppen für Güter. Es war also geplant, dass in diesem, bis zu diesem Zeitpunkt kleinsten Ortsteil Oberbozen Größeres entstehen sollte. Es begann damit, dass in unmittelbarer Nähe zum Bahnhof von der Rittnerbahngesellschaft das luxeriöse “Hotel Maria Schnee” erbaut wurde. Der Bahnhof bekam hingegen von Anfang an, klar auch an den Fahrplänen erkennbar (Abb.3), den Namen Oberbozen.
Abb. 3: aus “Der Tiroler” 1907.
Hinsichtlich der Logik nicht nachvollziehbar, aber angesichts der angestrebten touristischen und baulichen Entwicklung in diesem Ortsteil – man kann durchaus von einer Goldgräberstimmung sprechen (Abb. 4) – , versprach der Name Oberbozen mehr Ausstrahlung und damit Attraktivität. Gleichzeitig wurde die Aufmerksamkeit der Touristen vermehrt auf diesen östlichen Teil Oberbozens gelenkt, was den ruhesuchenden historischen Sommerfrischlern, die ja hauptsächlich in Maria Himmelfahrt und St. Magdalena ihre Häuser hatten, nur Recht sein konnte.
Abb. 4: aus Wolf (1907). “… 200 Landhäuser…”!
Das Hotel selbst, zuerst verpachtet, dann verkauft, wurde nach kürzester Zeit in Hotel Oberbozen umbenannt. In den zwanziger Jahren bekam es dann den noch heute gültigen Namen der zuerst Pächter- dann Eigentümerfamilie Holzner. Diesem ersten Bauboom wurde durch den Ausbruch des ersten Weltkrieges ein jähes Ende bereitet. In knapp zehn Jahren war die Gegend um das Kirchlein Maria Schnee mit hauptsächlich Villen und Beherbergungsbetrieben nicht nur zur größten Siedlung Oberbozens angewachsen, sondern war erstmals auch mit dörflichen Strukturen wie einer Bäckerei, einer Metzgerei und Geschäften ausgestattet (Abb. 5).
Abb. 5: Maria Schnee in den ersten Jahren nach der Eröffnung der Rittnerbahn. Rechts im Vordergrund das heutige Hotel Holzner, das noch ursprüngliche Bahnhofsgebäude mit dem Warenmagazin, wo heute die Remise steht. Zwölf der neunzehn im Vordergrund sichtbaren Gebäude sind zur Zeit des Bahnbaues entstanden (Postkarte Sammlung Kobler).
Nachdem die Bahn damals eine Monopolstellung für den Transport von Menschen sowie Waren hatte und demzufolge sich auch die Benennung der Bahnstationen bewusstseinsbildend auf die Menschen auswirkte, begann man immer öfter den Ortsteil, welchen man seit zweihundert Jahre Maria Schnee geheißen hat, als Oberbozen zu bezeichnen. Der Name, der ursprünglich für den ganzen westlichen Teil des Rittner Plateaus gegolten hatte, wurde umgangssprachlich jetzt also auf einen von der Ausdehnung her kleineren, aber hinsichtlich der Bedeutung immer wichtiger werdenden Teil reduziert. Die westlicher gelegenen, mehr oder weniger unverändert gebliebenen Siedlungsplätze Sankt Magdalena und Maria Himmelfahrt wurden hingegen von der Bevölkerung zunehmend unter letzerem Namen zusammengefasst. In der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen findet man noch althergebrachte Erwähnungen (Abb. 6), aber danach wird nur mehr zwischen Himmelfahrt – auf das Maria wird im täglichen Sprachgebrauch verzichtet – und Oberbozen unterschieden (Abb. 7).
Abb. 6: aus “Alpenländerbote”, 1933.Abb. 7: aus “Dolomiten”, 1950. Begräbnis von Peter Gostner und Josef Zwerger.
Um auf die Frage im Titel zu kommen: Das Aktionskomitee der Rittnerbahn und der Oberbozner Grund- und Bauverein – die großen “Player” bei der baulichen Entwicklung Oberbozens – ignorierten sicherlich nicht die Bedenken und Wünsche der historischen Sommerfrischlerfamilien. Edmund von Zallinger und Wilhelm von Walther bei der Rittner Bahn (Abb. 8) sowie Anton Kinsele und Anton von Walther in der Immobiliengesellschaft waren alle Mitglieder der Oberbozner Schützengesellschaft. Mit der Verlagerung der baulichen Entwicklung nach Maria Schnee/Oberbozen wurden zwei Ziele erreicht: Maria Himmelfahrt und St. Magdalena blieben mehr oder weniger ursprünglich und die Immobilienmakler konnten sich auf Maria Schnee und Umgebung konzentrieren, wo sie sich in der Grundstücksentwicklung aufgrund der einfacheren Eigentumsverhältnisse sowieso leichter taten.
Abb. 8: Die Mitglieder des Aktions-Komitees der Rittner Bahn (Aktions-Komitee 1904).
Heute erinnern sich kaum noch Leute, auch nicht Einheimische, an die alte Dreiteilung Oberbozens. Man muss oft schon von Glück reden, wenn das Kirchlein Maria Schnee selbst als solches beim Namen erkannt wird, schon schade… Schlussendlich ist diese Geschichte ein gutes Beispiel für ein universales Prinzip: die normative Kraft des Faktischen.
(Schluss)
In diesem Beitrag verwendete Literatur- und Bildquellen:
Braitenberg, C. von, Andergassen, L., Walther, F. von, Kofler, O., & Braitenberg, C. von. (1994). Die Schützenscheiben von Oberbozen: Symbole eines ritterlichen Exercitiums (Völlig umgearbeitete und ums Doppelte erw. Neuaufl.). Edition Raetia.
Anonym. (1950, August 30). Abschied von zwei Oberboznern. Dolomiten, 6.
Die acht Bozner Seligkeiten (5)
Category: Bozen,Menschen
geschrieben von Armin Kobler | 27. März 2025
am Beispiel der Familie Kinsele
“Dazu als Ergänzung im weltlichen Sinne Hat fünftens man eine Loge inne.”
Ein Jahrhundert lang hatten die Bozner ihr Theater am Musterplatz, im Gebäudekomplex des 1759 entstandenen luxuriösen Gasthofes Kaiserkrone, bekannt auch als Palais Pock, nach dessen Erbauer. Ich zitiere Franco Laitempergher (1978):
“Dann ist die Hotelresidenz im Besitz von Stefan Landsmann, der sie 1804 während der Belagerung [falsch übersetzt, sollte Besetzung heißen] des Landes durch die bayrischen und französichen Truppen unter Napoleon um 23.500 Gulden verkauft u.z. an eine Gesellschaft mit 47 Mitgliedern, die zu den reichsten Familien der Stadt gehören; diese Gesellschaft hat die Absicht, im Garten des Hotels ein Theater zu bauen. Die Arbeiten am Theater (heute Upim) beginnen im Februar 1804 und sind im August 1805 abgeschlossen. Das Projekt des Theaters stammt von Andrea Caminada aus Rovereto, die Szene von Carlo Ederle, die Fresken von Domenico Zeni. Das Theater hat 800 Plätze. Es besteht aus einem Parkett, einer doppelten Reihe von Logen mit insgesamt 33 und einer Galerie. Die meisten Logen sind den Mitgliedern vorbehalten. Die Zentralloge gebührt den angesehenen Persönlichkeiten und der Merkantilmagistrat kauft eine Doppelloge um 1100 Gulden. Die Theatersaison wird im September 1805 mit der Oper «Pamela nubile» eröffnet.”
Die Kaiserkrone/Palais Pock, am Musterplatz, abgebildet auf dem Umschlag des Buches dazu.
Hinsichtlich des Theaters mussten die Kinsele von fürwahr tiefster Glückseligkeit erfüllt gewesen sein. Schon in der Verlassenschaft des Franz Sales Kinsele 1812 wird eine Loge weitergegeben, Joseph und Aloys Kinsele erben von ihrem Vater jeweils “Die Hälfte aus der hiesigen Theater Actie und Loge oder 450 fl.” Aloys Kinsele hinterlässt widerum: “Eine einfache Loge im Stadttheater zu Bozen mit Nr. 28 bezeichnet.” und “Die Loge Nr. 6 im hiesigen Stadttheater, welche Herr Josef von Kinsele erbsweise übenahm.”
Auzug aus derVerlassenschaft des Franz Sales Kinsele (1812).
Bis zur letzten Kinselegeneration bleiben Familienmitglieder dem alten Theater verbunden; Anton Kinsele scheint als einer der verbliebenen Logenbesitzer auf, als das Theater in der Kaiserkrone 1904 aus Brandschutzgründen schließen muss. Franco Laitempergher (1978) weiter:
“1907 werden die 17 Logeninhaber entschädigt, unter denen der Bankier Sigismund Schwarz, Georg von Eyerl, Franz von Kofler, die Witwe des Architekten Bittner, von dem der Entwurf der Herz-Jesu-Kirche in der Rauschertorgasse stammt, Doktor Streiter, Anton Kinsele, Luise Zallinger von Walther, die Familie Thaler, Carli, Mumelter.” “1929 verkauft die Witwe von Lamberto Ressi, Gräfin Elvira Bonasi, die Räume des Theaters an die Gesellschaft «Cinema Centrale» und im südlichen Teil des Komplexes auf der Seite der Poststraße wird die «Rinascente» untergebracht.”
Damit erlischt aber nicht die Überzeugung der Kinsele für das Theater. Obwohl die Familie nur mehr einen Bruchteil des früheren Vermögens besitzt, scheint der Name Kinsele in der Liste der unterstützenden Familien auf, als für das neu im Bahnhofspark zu errichtende Stadttheater Geldmittel gesammelt werden. Dieses großzügig bemessene, der jüngeren Stadtentwicklung angemessene Gebäude wird von 1913 bis 1918 erbaut und leider schon 1943 durch die Bomben des zweiten Weltkrieges fast gänzlich zerstört. Nach 1945 wurden die Ruinen vollständig abgebrochen, heute errinnert nichts mehr an den von Max Littmann geplanten Theaterbau.
Das 1918 eröffnte neue Bozner Stadttheater in der Bahnfosstraße, Blickrichtung Westen (Foto aus: Stadttheater / Teatro Civico / Teatro Verdi – Geschichte eines Theaters an der Grenze (1918 – 1943), 2014).
In diesem Beitrag verwendete Literatur- und Bildquellen:
Bertoldi, M., & Mura, A. (2014). Stadttheater / Teatro Civico / Teatro Verdi - Geschichte eines Theaters an der Grenze (1918 - 1943). Hefte Zur Bozner Stadtgeschichte, 3. Band Herausgegeben von Massimo Bertoldi Und Angela Mura. https://issuu.com/bolzano_bozen/docs/stadttheater_dt
Julius Perathoner (1849 bis 1926) war nicht ein Teil der Kinseleverwandschaft aber doch sehr zumindest mit einem von ihnen sehr verbunden: Anton Kinsele (1865 bis 1946) arbeitete zusammen mit Perathoner in der gemeinsamen Anwaltskanzlei am Bozner Obstmarkt. Anton Kinsele war auch unter Perathoner Stadtrat in Bozen und blieb sogar nach der Machtergreifung der Faschisten im Rahmen der Möglichkeiten ein politisch agierender Mensch (ihm werden noch einige Beiträge gewidmet werden).
Nachdem Julius Perathoner ganz stark ein (Vorzeige-) Kind seiner Zeit war, das Umfeld der vorletzten Kinsele-Generation auch am Ritten wesentlich beeinflusst hat und zudem erst vor ein paar Tagen der bemerkenswerte Beitrag im RAI Sender Südtirol ausgestrahlt wurde, wollte ich die dessen Aufzeichnung der geschätzten Leserschaft nicht vorenthalten.
In diesem Beitrag verwendete Literatur- und Bildquellen:
Kainrath, P. P. (2017). Julius Perathoner [Video recording]. Media Art im Auftrag von Rai Südtirol.
Der Bozner Stern
Category: Bozen,Heraldik,Zeitschiene
geschrieben von Armin Kobler | 27. März 2025
Es gibt Ereignisse, welche für einen selbst eigentlich ziemlich unbedeutsam sind, bar jeder Wichtigkeit, und trotzdem bleiben sie uns aus einem unbekannten Grund im Gedächtnis erhalten. So eine Episode war die in meiner späteren Jugend vernommene Nachricht – ich lebte noch in Bozen –, dass der Stadtrat das historische Stadtwappen mit dem sechszackigen Stern auch formell wieder eingeführt hatte (21.4.1988). Während der faschistischen Periode hatte nämlich der fünfzackige “Stellone d’Italia” den sechszackigen “Stella Maris”-Stern, ein Bezug auf die Stadtpatronin, der Hl. Maria, ersetzt. Ab da an habe ich eigenartigerweise immer wieder die mir neu im Stadtbild unterkommenden Wappen bewusst im Hinblick auf die Sternformen angeschaut.
Hinsichtlich der Geschichte des Wappens schon etwas informiert, hat der untenstehende in der Wochenzeitung FF gegen Ende des vorigen Jahres veröffentlichte Artikel mein Interesse geweckt. Am historischen Waaghaus ist man nämlich im Laufe der Renovierungen auf mehre fünfzackige Wappensterne gestoßen. Die Verwunderung war groß, die Untersuchungen haben aber ergeben, dass es Produktionen bzw. Adaptierungen aus der Zeit des Faschismus waren.
Dabei hat es anscheinend schon vor dem Machtwechsel in den 1920iger Jahren einen etwas ungenauen Umgang mit dem Bozner Wappenstern gegeben. Man schaue sich nur das Wappen unseres Josef von Kinsele-Eckberg an.
Auch auf dem Ex Libris von Anton Kinsele ist das Bozner Stadtwappen mit dem welschen fünfzackigen Stern abgebildet. Für den deutschnationalen Mitstreiter Julius Perathoners wohl eine besondere Ironie des Schicksals.
Beim Schreiben dieses Beitrages bin ich übrigens auf einen sehr ausführlichen Aufsatz von Gustav Pfeifer gestoßen. In “Kommunalheraldik und Diktatur. Am Beispiel des Stadtwappens von Bozen (1926–1943)” greift der Südtiroler Landesarchivar weit aus und lässt kaum Fragen offen. Und auch hier werden einige, durchaus prominentere, prefaschistische Fünfzack-Ausnahmen genannt.
In diesem Beitrag verwendete Literatur- und Bildquellen:
Pfeifer, G. (2008). Kommunalheraldik und Diktatur. Am Beispiel des Stadtwappens von Bozen (1926–1943). Geschichte Und Region/Storia e Regione, 17, 138–158.
Post aus Kremsmünster
Category: Menschen,Zeitschiene
geschrieben von Armin Kobler | 27. März 2025
Franziska Kastler, Robert Kastler, Tanja Lartschneider-Kastler. Sammlung Tanja Kastler.
Eine nachhaltige schöne Begegnung – wenn auch inzwischen nur über Telefon und Mail – war jene mit Frau Tanja Lartschneider-Kastler, der ersten lebenden Nachfahrin der Kinseles, welcher ich bisher begegnet bin. Sie hat sich viel Zeit genommen und mir bei der Recherche viel weitergeholfen. Wir freuen uns schon auf ein Treffen in Oberbozen oder in Margreid. Dank ihrer Hilfe konnte ich jetzt den Stammbaum erweitern und vervollständigen. Zudem hat sich mich mit kostbaren Fotos versorgt, alle beschriftet.
Josef Lartschneider, Johanna Kinsele-Lartschneider und ihre vier Kinder, von links Hedwig, Josef, Helene und Johanna. (Sammlung Tanja Kastler)
Franz Kinsele (1831 – 1908) war drei Mal verheiratet und hatte vier Kinder. Das älteste von ihnen, Johanna (1860 – 1946), heiratete den Arzt Josef Lartschneider (mit “t”!), einen Mediziner. Drei ihrer gemeinsamen vier Kinder sind in Bozen geboren, eines in Wien. In der Folge übersiedelten sie nach Linz. Der Sohn, auch Josef, ein Jurist, war der Großvater von Tanja Kastler.
Aloisia von Reharovszky, dritte Frau von Franz Kinsele und Mutter von Eleonore. (Sammlung Tanja Kastler)
Die dritte Frau von Franz Kinsele, Aloisia von Reharovszky, wurde in Hallein 1857 geboren und war vor der Heirat in Wilten bei Innsbruck zu Hause. Ihr Vater Alois war Bergrat in den Salzlagerstätten von Hallein und ungarischen Ursprungs. Nach dem Tode des Gatten 1908 besaß sie ein Fruchtgenussrecht auf die Villa Kinsele. Als sie 1941 stirbt, leben noch zwei der Erben, Johanna und Eleonore, das Haus ist mehrfach hypothekarisch belastet.
Eleonore Kinsele. (Sammlung Tanja Kastler)
Ich vermute, dass dieses Foto der ganz jungen Eleonore während ihres Schulaufenthaltes bei den Ursulinen in Innsbruck in den letzten Jahren vor der Jahrhundertwende gemacht wurde. Da dürfte sie ungefähr 13 Jahre alt gewesen sein.
Franziska und Richard Kinsele. (Sammlung Tanja Kastler)
Das ist das älteste bisherige Foto dieser Recherche. Franziska Kapeller-Kinsele war die Tochter des Bozner Bürgermeisters Anton Kapeller. Richard (geb. 1829) und Franziska (geb. 1835) waren u.a. Eltern von Anton Kinsele, dem Bozner Rechtsanwalt und Gemeindepolitiker von dem schon die Rede war.
In diesem Beitrag verwendete Literatur- und Bildquellen:
Nunwarz, A. (1908). Josef Lartschneider, Johanna Kinsele-Lartschneider und ihre Kinder Hedwig, Josef, Helene und Johanna [Fotografie]. Sammlung Tanja Kastler.
Anonym. (1860). Richard Kinsele und Franziska Kapeller [Fotografie]. Sammlung Tanja Kastler.
Hall ist ergiebig
Category: Menschen,Zeitschiene
geschrieben von Armin Kobler | 27. März 2025
Blick auf die Nordkette? Von oberhalb Hall? Sammlung A. Kobler.
Der Gemeinde Hall bin ich sehr dankbar, hat sie mir doch zeitnahe und umfangreich geholfen. Harald Höfner, Hermann Theis und besonders der Stadthistoriker Alexander Zanesco haben mir wertvolle Hinweise hinsichtlich unserer Eleonore Kinsele geben können.
Dass diese am 4. April 1881 geboren ist, habe ich mittels der vorhanden Schulzeugnisse (Beitrag dazu folgt) herausgefunden. Aus Hall kam die Information, dass sie am 2. Februar 1956 dort ohne Nachfahren gestorben ist. Natürlich wäre interessant, von ihrem Grab zu wissen. Aber:
Frau Eleonore Kinsele konnte ich im Sterbebuch des Standesamt Hall in Tirol verstorben 02.02.1958 finden, leider haben wir im Friedhofsbuch Hall keinen Eintrag. Natürlich kann die Beerdigung überall gewesen sein oder sogar irgendwo in Südtirol. Die Bestattung Ebenbichler in Hall in Tirol hat die Beerdigung durchgeführt, aber ob die noch Unterlagen haben weiß ich nicht.
Das Bestattungsunternehmen antwortet, dass sie leider mir nicht weiterhelfen kann, da es zu diesem Todesfall kein Aufzeichnungen (mehr?) besitzt. Stadthistoriker Zanesco hat weiter nachgeforscht und konnte mir folgendes berichten:
Eleonore Kinsele, geb. 4.4.1881 in Bozen, Kunstmalerin, röm. kath., ledig, Staatsangehörigkeit: Deutsches Reich (nachgewiesen durch K. Z. 709.974), wohnt seit 15.9.1933 in der Schulgasse 2, ab 26.6.1937 in der Salzburgerstraße 30 (bei Siber) und ab 1.9.1939 in der Thaurerstraße 23 (bzw. Heiligkreuz 11, später Reimmichlstraße 23a) (bei Frankenstein). Sie stirbt am 2.2.1958 in Hall. Auffällig ist, dass sie von 1937 bis 1939 „bei Siber“ wohnt, sicher die Nachkommen des Künstlers Alphons Siber, der 1919 gestorben ist und dieses Haus (s. o.) besaß. Hier gibt es auch eine enge Verbindung nach Südtirol. Denn Siber gehörte zum Kreis der „Jung-Tiroler“ um Arthur von Wallpach (der später Sibers Frau Klothilde Seidl-Siber heiratete. Siber lebte danach bis zu seinem Tod mit Anna Tusch). Es wäre möglich, dass auch Eleonore Kinsele aus diesem Umfeld stammte. Aber auch die Familie Frankenstein gehörte sozusagen zur intellektuellen Elite Halls. Möglicherweise haben die Nachkommen noch Erinnerungen an Eleonore.
Ein interessanter Ansatz, dem ich demnächst sicherlich nachgehen werde. Besonders spannend wird es durch die zweite Mail, welcher mir Herr Zanesco geschickt hat und einen wichtigen Kreis schließt:
Sie wurde in Heiligkreuz („Stadtteil“ von Hall) begraben. Interessant ist, dass sie hier als Kunstmalerin bezeichnet wird. Falls von Interesse: Am 14.5.1940 werden Anton Kinsele, Rechtsanwalt, geb. 15.8.1865 in Bozen, wohnhaft Obstplatz 38, und seine Frau Franziska, geb. 28.1.1869 in Bozen, in Hall, Speckbacherstraße 5, ansässig. Interessanterweise steht in der Meldung, dass sie „bei Kinsele“ wohnten. Für Eleonore ist aber ein Aufenthalt an dieser Adresse dzt. nicht zu fassen. Er starb 1946, sie reoptierte 1948, starb aber 1956 in Hall. Man kann annehmen, dass Eleonore bei Siber und Frankenstein in Miete war. Näheres habe ich dazu nicht gefunden. Letztere Familie sollte aber Auskunft geben können. Eleonore scheint auch in den Akten zur Heimatszugehörigkeit, in den Findbüchern der Gemeindeakten dieser Zeit, in den Akten der Lebensmittelkarten oder in den Gemeinderatsprotokollen nicht auf.
Gibt es also doch vielleicht noch ein Grab von den Kinseles in Heiligkreuz bei Hall?
In diesem Beitrag verwendete Literatur- und Bildquellen:
Wieder ein schöner Netzfund von der gefühlten 50. Google-Ergebnisseite. Man beachte unten links die Signatur LoreK. Anton Kinsele dürfte der Cousin von Eleonore gewesen sein (“Base”, “Vetter” im Brief). Er war ein Bozner Anwalt, war in Sozietät mit Julius Perathoner, dem letzten gewählten Bürgermeister Bozens vor der Machtübernahme der Faschisten. Genauso wie dieser war auch Anton deutschnational und im Gemeinderat tätig. Er war sehr rührig, denn man findet sein Engagement in mehreren Bereichen u.a. auch als Vorstandsmitglied des historischen Bozner Baumwollspinnwerks an der Talfer. Er war zudem Erstunterzeichner eines mutigen Protestschreibens Bozner Bürger, welche damit gegen die Errichtung des Siegesdenkmals – ohne Erfolg – protestierten.
Der Brief an Eleonore ist eher pessimistisch, er spiegelt die schwierigen Umstände der zwanziger Jahre wider aber auch die wirtschaftlichen Schwierigkeiten Eleonores und die Niedergeschlagenheit ihres Bruders Robert .
Das Exlibris zeigt übrigens den Gartenpavillon des Wegerhauses. Ein Indiz, dass damals auch dieser Garten zur Villa Kinsele gehört hat?
In diesem Beitrag verwendete Literatur- und Bildquellen:
Auszug aus einem Beitrag von Georg Baron Eyrl über die Sommerfrischhäuser auf dem Ritten.
Frau Evi Pechlaner vom Südtiroler Landesarchiv hat dankenswerterweise schnell und ausführlich geantwortet. Ein paar Auszüge:
Das Südtiroler Landesarchiv verwahrt die sogenannten Verfachbücher, also die Vorläufer des Grundbuches, in die meistenteils die Verträge um Immobilien (Verlassenschaftsabhandlungen, Kaufverträge usw.) eingetragen wurden. Dabei wurden die Verträge chronologisch aufgenommen und jährlich zu Büchern gebunden, weshalb sich die Suche nach Verträgen manchmal etwas zeitintensiv gestalten kann. Für den Beginn einer Recherche in den Verfachbüchern ist es wichtig, den historischen (handgeschriebenen) Grundbuchsauszug zur Hand zu nehmen. Der erste auf dem B-Blatt aufgeführte Vertrag ist zugleich der letzte, der in die Verfachbücher eingetragen wurde und sollte idealerweise eine Erwähnung des vorhergehenden Vertrages enthalten, sodass man sich Vertrag für Vertrag in die Vergangenheit des Hauses vorarbeiten kann.
Der „Ahnherr“ der Bozner Familie Kinsele war Franz Sales Kinsele, der der Sohn eines aus dem Vinschgau zugewanderten Bäckermeisters war und nach einer Ausbildung zum Kaufmann eine äußerst erfolgreiche Karriere startete. Er erlangte 1771 das Bozner Bürgerrecht und war zeitweise Geschäftsführer, später Teilhaber des erfolgreichen Bozner Handelshauses Georg Anton Menz. Er war mit Helene Stickler von Gassenfeld verehelicht. Schon 1784 wurde Kinsele ein Wappenbrief verliehen, einige Jahre später gründete er eine eigene Großhandlung. Sein Sohn Josef Kinsele erlangte 1839 die Erhebung in den Adelsstand mit dem Prädikat „von Eckberg“.
Auch von Magdalena Amonn habe ich eine Antwort bekommen:
Es gibt ein Buch, „Die Schützenscheiben von Oberbozen“, erschienen im Jahr 1994, in dem alle Mitglieder von 1668 bis 1990 enthalten sind. Hier habe ich folgende Mitglieder mit dem Namen Kinsele gefunden: Aufnahme 1815: Joseph Kinsele Aufnahme 1857: Dr. Richard Kinsele Aufnahme 1892: Dr. Anton Kinsele
Arch. Wolfgang Piller, wie schon oben erwähnt, hat mir auch zurückgeschrieben. Er verfügt über keine Unterlagen seines Vaters bezüglich des Hausumbaus von 1970. Schade…
In diesem Beitrag verwendete Literatur- und Bildquellen:
Eyrl, G. B. von. (1925). Beiträge zu einer geschichtlichen Darstellung der Entwicklung der Sommerfrisch-Ansiedelungen auf dem Ritten. Der Schlern – Zeitschrift Des Vereines Für Heimatschutz, 6, 183–186.