In einem früheren Beitrag habe ich aufgezeigt, wie auf die Jahre des Aufschwungs der Villa Kinsele eine Periode des Niedergangs folgte. Ob der Grund dafür im mangelnden Interesse an der Sommerfrische von Seiten der Eigentümer oder – was plausibler ist – in einer Verschlechterung der finanziellen Situation zu suchen ist, vermag ich nicht mit Sicherheit zu sagen.
Tatsache ist jedenfalls, dass die Familie Kinsele ihr Sommerhaus nicht mehr bewohnte und es ganzjährig zur Vermietung anbot (Abb. 1). Ob in all den Jahren bis zum Verkauf 1943 Mieter gefunden werden konnten und wer diese waren, wird nicht mehr zur Gänze ermittelbar sein. Von einer Familie wissen wir jedoch, dass sie das Haus bewohnte, denn die Eheleute waren die bedeutenden Wissenschaftler Bronisław Malinowski und seine erste Frau Elsie R. Masson.
Abb. 2: Das Bild zeigt die Familie Malkinovski auf dem Platzl vor der Villa Kinsele (Wayne 1995). Am rechten Bildrand sieht man den zweiten Kastanienbaum, der in den 20er- oder 30er Jahren entfernt wurde und einen kleinen Teil des Daches der Villa Amalia des Benedikt Pobitzer, welches die Malinowskis im Jahre 1923 erwerben werden .
Bronisław Malinowski (geboren 1884 in Krakau, gestorben 1942 in New Haven) gilt als einer der Begründer der modernen soziokulturellen Anthropologie, seine ethnographische Methode ist bis heute ein wichtiger Bezugspunkt. Man sagt, er sei für die Anthropologie das gewesen, was Freud für die Psychoanalyse war. Während seiner Studienaufenthalte in Ozeanien lernte er seine spätere Frau, die australische Journalistin Elsie Masson (geboren 1890 in Melbourne, gestorben 1935 in Natters), kennen, die ihren Mann nicht nur tatkräftig unterstützte, sondern auch eigenständige Studien betrieb (Salvucci 2021).
Nach Aufenthalten in England, auf den Kanarischen Inseln, in Frankreich und Polen zogen die Malinowskis auf Anraten von Wiener Freunden auf den Ritten. Ausschlaggebend war nicht nur das Klima, von dem man sich positive Auswirkungen auf die tatsächlichen (Elsie) und vermeintlichen (Bronisław) gesundheitlichen Probleme erhoffte, sondern auch die Tatsache, dass Bozen und die Südtiroler Berge den inzwischen bekannten Anthropologen an Krakau bzw. die Hohe Tatra seiner Kindheit erinnerten. Zudem war Bozen finanziell deutlich günstiger als die Alternative London (Reiner 2016).
Abb. 3: Ausschnitt aus dem “Tiroler Volksblatt” vom 11.8.1923. Am Ende des Beitrags wird über den Besitzwechsel von Pobitzer zu Malinowski berichtet. Ich habe den Artikel vollständig wiedergegeben, damit man auch die Summen der anderen Transaktionen sehen kann. Die 35.000 Lire waren im Vergleich eine doch hohe Summe, was auf die Begehrlichkeit des Hauses und dessen Lage in Oberbozen hindeutet. Laut Salvucci (2023) wurden fast 19.000 Lire nochmals für die Renovierung und Adaptierung ausgegeben. Aus der stattlichen Summe lässt sich schließen, dass das Haus deutlich den Vorstellungen der neuen Eigentümer angepasst wurde.
Im Oktober 1922 mieteten sie sich “… in einem alten gemauerten Haus nahe der kleinen Dorfkirche Maria Schnee ein, wo sie den Winter 1922-23 verbrachten, wieder mit zwei Bediensteten.” (Wayne 1995). Burke und Ulrich (2023), die Enkel, geben an, dass die Familie “the Kinsele Haus” bewohnte. Da Anton und Fanny Kinsele ihr Haus in Maria Schnee 1920 an Karl und Maria Weger verkauft hatten, kann nur jenes von Cousin Robert Kinsele in Frage kommen. Schließlich hat Salvucci (in Vorbereitung) in dessen Nachlass einen Briefwechsel zwischen Bronisław Malinowski und Anton sowie Robert Kinsele gefunden, welcher die Vermietung der Wohnung im Kinselehaus zum Gegenstand hatte. Der Rechtsanwalt Anton Kinsele vertrat übrigens mehrere Jahre lang Malinowskis Interessen in Südtirol (Wayne 1995).
Abb. 4: Das Malinowskihaus heute nach der letztlich durchgeführten Renovierung des Daches, auf dem eine Photovoltaikanlage installiert wurde, von Osten aus gesehen. Im Wesentlichen ist das Haus über die Jahre unverändert geblieben. Links davon, halb verdeckt, das Eccel-Haus. Auch mit dieser Familie pflegte Elsie Masson eine gute Nachbarschaft (Salvucci 2023).
Der Ritten schien der Familie Malinowski auch für einen längeren Aufenthalt ideal zu sein, weshalb sie mit dem Erwerb der benachbarten Villa Amalia liebäugelten, die der Bozner Rechtsanwalt Benedikt Pobitzer zum Kauf angeboten hatte. Ihr Wiener Freund Paul Kuhn ermutigte sie dazu und half ihnen auch, die hohe finanzielle Hürde (Abb. 3) des Kaufs und Umbaus zu überwinden (Wayne 1995). Für die nächsten drei Jahre bewohnten Elsie und ihre drei Töchter Józefa, Wanda und die 1925 geborene Helena das Haus am Ritten ganzjährig, von 1926 bis zur Übersiedlung nach London 1929 nur im Sommer, die übrige Zeit verbrachten sie in Gries bei Bozen, wo sie zuerst die Villa Elisabeth und später die Villa Marienheim gemietet hatten. Der Gesundheitszustand der Ehefrau hatte sich weiter verschlechtert, sie litt an Multipler Sklerose. Bronisław hingegen kam nur in den großen Ferien nach Gries und Oberbozen, er arbeitete und hielt sich zuerst als Lektor, dann als Universitätsprofessor in London auf (Burke und Ulrich 2023).
Abb. 5: Die Villa von Nordosten gesehen.
Das doch stattliche Haus mitten im Grünen mit der großen Veranda und dem beeindruckenden Blick auf die Dolomiten wirkte sich befruchtend auf die Arbeit des Forscherpaares aus. Es bot den Malinowskis auch die Möglichkeit, Gäste zu empfangen. Salvucci zeigte 2023 auf, wie viele Studenten und Studienkollegen in den Oberbozner Jahren zu Gast waren und wie der Tagesablauf gestaltet war. So mancher Gast trat später erfolgreich in die Fußstapfen seiner Gastgeber. Untergebracht waren die Gäste im Widum bei der Kirche Maria Himmelfahrt und in der Pension Pattis, gleich gegenüber der Villa Malinowski.
Abb. 6: Die stattliche nach Süden geöffnete Veranda und der darüber liegende großzügige Balkon prägen das Gebäude funktional und ästhetisch. Rechts im Hintergrund die Villa Pattis.
1929 übersiedelte die Familie ganz nach London, verbrachte aber die Sommer weiterhin in Oberbozen. Ab 1934 war auch dies aufgrund der immer weiter fortschreitenden Krankheit von Elsie, die inzwischen auf den Rollstuhl angewiesen war, nicht mehr möglich, weswegen das Haus, das inzwischen als Malinowski-Villa bekannte war, an das Bozner Ehepaar Schulzinger vermietet wurde (Wayne 1995). 1935 starb die immer schwächer gewordene Elsie im Alter von nur 45 Jahren während eines Kuraufenthaltes in Natters bei Innsbruck. Bronisław zog mit den Töchtern noch vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in die USA, wo er einen Lehrstuhl an der Universität Yale angeboten bekommen hatte. Er starb unerwartet 1942 in New Haven, nachdem er 1940 seine zweite Frau, die junge britische Malerin Valetta Swann, geehelicht hatte (Salvucciet al. 2022).
Abb. 7: Annonce in der Alpenzeitung vom 7.10.1926. War das “y” am Ende des Familienamens absichtlich oder ein Fehler der Anzeigennahme? Das Verbot der deutschen Ortsnamen hatte schon gegriffen: Soprabolzano.
Während des Zweiten Weltkrieges wurde das Haus beschlagnahmt (Abb. 8), nachdem Großbritannien – die Malinowskis waren inzwischen englische Staatsbürger – zum Kriegsgegner Italiens geworden war. Nach Kriegsende wurden die Besitzverhältnisse wiederhergestellt und das Haus an die Nachkommen, inzwischen im Enkelgrade, vererbt.
Abb. 8: Meldung in den “Dolomiten” vom 3. August 1940. Mittels der Presse wurde in mehreren auf das Jahr 1940 verteilten Berichten der Bevölkerung mitgeteilt, wer die von der Beschlagnahme betroffenen ausländischen Bürger waren. Unter Punkt “s” ist Bronisław Malinowski angeführt.
Die für diesen Bericht verwendete Literatur ist umfangreich. Eine wahre Fundgrube für alle, die mehr über diesen bedeutenden Kulturanthropologen wissen wollen. Sehr interessant ist auch nachzulesen, wie besonders Elsie Masson, die ja viel mehr Zeit in Südtirol zugebracht hatte als ihr Mann, ihre Umgebung aus gesellschaftlicher, historischer und politischer Perspektive bzw. aus der wissenschaftlichen Distanz und der alltäglichen Nähe, erlebt und verschriftlicht hat. Sie bekam die Entnationalisierungsaktionen der faschistischen Regierung unmittelbar mit und hat deren Taten mehrmals auch publizistisch angeprangert (Masson 1923).
Abb. 9: 1993 ließ der Heimatpflegeverband an der Nordseite des Hauses diese vom Spazierweg aus ersichtliche Gedenktafel aus Porphyr anbringen.
Elisabeth Tauber und Dorothy Zinn, soziokulturelle Anthropologinnen an der Freien Universität Bozen, haben es als notwendig erachtet, auf die Geschichte Malinowskis und seiner Familie in Südtirol aufmerksam zu machen und gründeten 2016 das Malinowski Forum for Ethnography and Anthropology. Seitdem fördert das MFEA nicht nur die Forschung zu Malinowski und seiner Frau Elsie Masson, sondern hat sich auch von Malinowskis Anwesenheit in Südtirol anregen lassen, Gespräche über aktuelle anthropologische Theorien und Methoden zu führen. Ein weiteres Ziel des MFEA ist es, die Alpen als Forschungsregion ethnographisch wieder vermehrt in den Blick zu nehmen. Für das Malinowski-Forum fungiert Malinowski daher weniger als inhaltlicher Bezugspunkt für die alpine Anthropologie als vielmehr als Eponym, das vom wissenschaftlichen Komitee in Zusammenarbeit mit den beiden Ko-Koordinatorinnen entwickelt wurde. Derzeit arbeitet das Malinowski-Forum an zwei Bänden zu Malinowski in den Alpen beziehungsweise zur Bedeutung der ethnographischen Methode für die Forschung in den Alpen, die 2022 erscheinen werden. Der erste Band beschäftigt sich mit Malinowskis feinsinnigem Erbe in Geschichte und Ethnographie der Alpen, während der zweite Band neuere Beiträge versammelt, die die von Malinowski begründete, ethnographische Methode zur Erforschung der Alpen auf sehr unterschiedliche Weise anwenden.
Ein herzlicher Dank geht an Daniela Salvucci von der Freien Universität Bozen, welche mich bei meinen Recherchen zu Malinowski und seiner Beziehung zur Villa bzw. Familie Kinsele tatkräftig unterstützt hat.
In diesem Beitrag verwendete Literatur- und Bildquellen:
Salvucci, D. (2021). Incorporated Genre and Gender: Elsie Masson, Her Writings, and Her Contribution to Malinowski’s Career. In E. Tauber & D. L. Zinn (Eds.), Gender and Genre in Ethnographic Writing (pp. 189–217). Springer International Publishing. DOI: 10.1007/978-3-030-71726-1_8
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert erreicht die Ausdehnung der Kinsel’schen Besitzungen in Maria Schnee ihren Höhepunkt: Die Brüder Richard und Franz Kinsele, Söhne von Alois und Enkel von Franz Sales, lösen ihre Geschwister am Eigentum der Villa ab und erweiteren ihren Besitz an dem Platzl vor dem Haus.
Abb. 1: Ex Libris von Anton Kinsele; er liegt auf der Wiese vor dem heute noch bestehenden Pavillon im so genannten Wegerpark. Die Zeichnung stammt von seiner Cousine Eleonore (Lore) Kinsele. 1920 trennen er und seine Schwester sich von diesem Besitz.
1866 ersteigert Richard Kinsele das angebaute, ältere Sommerfrischhaus von Maria Schnee (wir heißen es immer noch Wegerhaus) und verkauft 1873 an den Bruder Franz seinen Anteil an der Villa Kinsele. Aus dieser Zeit dürfte auch die Tür stammen, welche die beiden Villen direkt verband und wir, inzwischen zugemauert, vorgefunden haben. Das Sommerrefugium, dessen Eigentümer vormals die Familien Menz, Grätzl und Kofler waren, vererbt Richard an seine beiden Kinder Anton und Franziska (Fanny). Diese, beide kinderlos, verkaufen es 1920 an die Familie Weger. Eine weitere Erweiterung erfährt die Villa Kinsele 1880, als Franz auch die untere Wiese samt Gemüsegarten erwirbt. Wann die obere Wiese dazukam, weiß ich noch nicht, 1866 scheint sie noch dem Doppelbauern gehört zu haben, siehe Hinweis in Abbildung 2.
Abb. 2: Versteigerungsedikt, veröffentlicht in der “Bozner Zeitung” vom 6.6.1866. Diese Verlautbahrung ist schon deshalb siedlungshistorisch wertvoll, weil man dadurch u.a. erfährt, wer zu diesem Zeitpunkt Eigentümer der angrenzenden Liegenschaften war.
In den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts, als der Anschluss des Rittens an das Verkehrsnetz immer wahrscheinlicher wurde, ließ Franz Kinsele das Haus durch den Einbau von Täfelungen und eines Kachelofens ganzjährig bewohnbar machen (ich berichtete hier). Spätestens zu diesem Zeitpunkt verschwanden die barocken Deckenmalereien in drei Räumen unter Holz und Mörtel. Nach seinem Tod im Jänner 1908 erbte sein Sohn Robert das Haus, seine Stiefmutter Aloisia von Rehorovszky hatte jedoch laut Testament ein lebenslanges Fruchtgenussrecht. Als sie 1941 starb, hatte sie ihren Stiefsohn bereits um zwei Jahre überlebt. Der Besitz ging durch Erbschaft auf die beiden Halbschwestern Johanna und Eleonore über, die aber schon seit Jahren im inzwischen von Südtirol abgetrennten Österreich lebten. Sie sahen wegen der großen Entfernung keine Verwendung mehr dafür bzw. konnten sich die Erhaltung des Gebäudes nicht leisten, weshalb sie die Villa Kinsele und die angrenzenden Grundstücke 1943 für 260.000 Lire an meine Großtante verkauften.
Abb. 3: Annonce in den “Bozner Nachrichten” vom 31.1. und 7.2.1915.
Die Familie muss in der Zwischenkriegszeit deutlich ärmer geworden sein, obwohl Robert Kinsele ein angesehener Arzt war. Nur so lassen sich die zahlreichen Hypotheken – in Summe für 55.000 Lire – erklären, die zum Zeitpunkt des Verkaufs auf dem Haus lasteten. Erste Anzeichen von Geldnot sind aber schon früher zu vermuten, denn spätestens 1915 wurde die gesamte Villa Kinsele zur Miete angeboten (Abb. 3).
Abb 4: Auszug aus dem Grundbuch mit den Hypothekarbeslastungen und dem Eintrag der Tilgung durch die Käuferin.
Die Vermietung des Hauses und die damit einhergehende Vernachlässigung der Erhaltung ist sicherlich als negative Entwicklung zu bewerten. Aber gerade dadurch kam die Villa Kinsele mit dem großen Weltgeschehen in Verbindung. In den nächsten Folgen werden wir sehen wie und warum. Es bleibt spannend oder, besser gesagt, es wird spannender.
In diesem Beitrag verwendete Literatur- und Bildquellen: