Seit 2020 bin ich vollwertiger Eigentümer der Villa Kinsele in Oberbozen. 1969 hat meine Mutter sie von ihrer Tante geerbt. Ich habe darin fast alle Sommer meiner Kindheit und Jugend verbracht. Die dortige Atmosphäre sowie das Ambiente der historischen Oberbozner Sommerfrische haben mich mitgeprägt. Meine Mutter (Jahrgang 1926) hat mir viele Geschichten aus den früheren Jahren Oberbozens erzählt, die Familie ihrer Schwester wohnt seit den 40er-Jahren in der Nähe, mein Onkel war über Jahrzehnte Schriftführer der dortigen Schützengesellschaft.
Ich wusste, dass das denkmalgeschützte Haus den Namen einer früheren Eigentümerfamilie hat, welche es meiner Großtante 1943 verkauft hatte. So einige private Gegenstände waren im Haus zurückgeblieben und schon als Kind sah ich mir gerne die alten Fotografien und Grafiken an, die für mich unverständlichen handschriftlichen Briefe, die alten Bücher in Kurrentschrift auf dem Dachboden. Aus den Erzählungen der Eltern erfuhr ich, dass eine Tochter des Hauses Kunstmalerin gewesen sei, dass dort, wo die geschäftstüchtige Großtante eine kleine Wohnung im Obergeschoss errichten ließ, vorher ein einziger großer Raum war, der als Musikzimmer und Salon der Sommerfrischgesellschaft diente. Ich vernahm mehrmals die Vermutung, dass in unserem Haus, das mit dem angebauten sogenannten Wegerhaus, der Kirche Maria Schnee und einem ehemaligen Bauernhaus einen Gebäudekomplex bildet, die ins Kloster eingetretenen Töchter der vermögenden Bozner Handelsherren den Sommer verbracht haben könnten.
Doch all das blieb in den Jahren eine ungeordnete Ansammlung von alten Schriftstücken, verblichenen Fotografien, einigen Aktzeichnungen, manchen Geschichten und vielen Vermutungen. Auch der Familienname Kinsele ist mir in den ganzen Jahren nie in der Form eines Zeitgenossen begegnet. Aber ich spürte seit jeher deutlich, dass dieses Haus eine interessante Geschichte verbergen muss, dass die vorige Eigentümerfamilie es verdient, dass man sich mit ihr und ihren Zeitumständen befasst.
Nach der Übernahme der Villa Kinsele im Jahre 2020 als Folge des Erlöschens des Fruchtgenussrechtes meines Vaters wurde deutlich, dass Renovierungsarbeiten anstehen. Damit diese den vielfältigen Erfordernisse des Wohnens aber auch dem Wesen des Gebäudes gerecht werden, ist eine intensive Beschäftigung mit ihm notwendig. Was ist inzwischen zu ersetzen, was ist in jedem Fall zu erhalten, wie können heutige Wohngewohnheiten berücksichtigt werden, welche Anpassungen an die Energie- und Wärmeversorgung sind zu machen, welche vorigen Bausünden können rückgängig gemacht werden, was sagt das Denkmalamt dazu? Das war der ausschlaggebende Anlass, sich systematisch mit der Villa Kinsele zu beschäftigen. Schnell merkte ich, dass sich mein Interesse nicht auf die ehrwürdigen Mauern beschränken wollte, ich musste die Menschen darin miteinbeziehen.