Sogenannter “Beifang”, das heißt Erkenntnisse, welche von den eigentlichen Zielen abweichen, ist bei den historischen Recherchen unvermeidlich. Wenn man der Versuchung standhält, sich in der Breite zu verlieren, kann wirklich wertvolles Unvermutetes zu Tage treten. Bei meinen Nachforschungen zu Anton Kinsele fand ich letztlich in der volkskundlichen Zeitschrift “Der Schlern” einen Beitrag über die mir bis dahin unbekannten Bozner Studentenkrawalle von 1908, wo der Bozner Rechtsanwalt und Gemeindepolitiker eine unrühmliche Rolle gespielt haben soll.
“Sie [die Episode] könnte mit Schmunzeln übergangen werden, wenn sie nicht ein bestürzendes Maß von Intoleranz und Gewaltbereitschft enthüllte, das auch in gebildeten liberalen Kreisen im Österreich vor dem Ersten Weltkrieg im Allgemeinen und in der Handelsstadt Bozen im Besonderen vorhanden war, und wenn sie nicht bereits die für den Bestand der Monarchie verderbliche Verbreitung eines alldeutschen Denkens in den letzten Jahren des Vielvölkerstaates bewiese.”
Der Autor, der leider schon verstorbene Rainer Seberich, zeigt anhand verschiedener Zeitungsausschnitte, wie das politische Couleur der Schreibenden die Ereignisse unterschiedlich darstellen lässt. Sehr aufschlussreich für das damalige Politikverständnis ist auch der Bericht über die den Ereignissen folgende Landtagsdebatte. Bemerkenswert finde ich, dass damals – wir wissen, dass die Monarchie in dieser Zeit immer mehr nationalen Spannungen und auch gewalttätigen Entladungen ausgesetzt war – man auch innerhalb derselben Volksgruppen gar nicht zimperlich war. Eine unvermutete Parallele zur heutigen Zeit, in der sich die westlichen Gesellschaften immer mehr polarisieren, in den sogenannten sozialen” Netzwerken aufeinander eingedroschen wird und die Grenzen des Sagbaren immer weiter verschoben werden? Ein Unterschied könnte sein, dass die oben genannten Auseinandersetzungen eine kleine Elite als Akteure hatten, während das heutige Internet der breiten Masse die leider allzu oft genutzte Möglichkeit gibt, sich verbal aggressiv zu verhalten, meinte der Historiker Hans Heiss, als ich ihm von diesem Fund und meiner Verwunderung erzählte.
Der sehr lesenswerte Beitrag, der übrigens die Bozner Ereignisse auch in den gesamtösterreichischen Kontext der späten Habsburgermonarchie politisch verortet, kann hier zur Gänze heruntergeladen werden. Der Verlagsanstalt Athesia sei für die Bereitstellung gedankt.
Abb. 2: Die Bozner Bürgersäle, nach Kriegsende abgerissen. Der jetzige Verdiplatz, früher Viehmarktplatz genannt, war, wie man sieht, schon einmal einladender (Bildschirmfoto aus “Schauspielorte in Bozen).
In diesem Beitrag verwendete Literatur- und Bildquellen:
“… und zum siebten hab’ Man – dieser Punkt ist weniger klar – Nur einmal jedes halbe Jahr Die Wäsche, weil man Gott sei Dank, Sie reichlich hat in Truh’ und Schrank.”
So detailliert die verschiedenen vorliegenden Vermächtnisse und Inventarlisten auch den jeweiligen Eigentumsstand – von den Gebäuden bis hinunter zu Weinkellergeschirr und einzelnen Löffeln und Tellern – darstellten, Hinweise auf Gewand und Wäsche fehlen komplett. Deshalb kann nur angenommen werden, dass zumindest die Kinseles der ersten, sehr wohlhabenden Generationen sicherlich kein Problem hatten, so viel Wäsche zu besitzen, dass sie nicht öfter als zwei Mal im Jahr Waschgänge organisieren mussten.
“Dazu als Ergänzung im weltlichen Sinne Hat fünftens man eine Loge inne.”
Ein Jahrhundert lang hatten die Bozner ihr Theater am Musterplatz, im Gebäudekomplex des 1759 entstandenen luxuriösen Gasthofes Kaiserkrone, bekannt auch als Palais Pock, nach dessen Erbauer. Ich zitiere Franco Laitempergher (1978):
“Dann ist die Hotelresidenz im Besitz von Stefan Landsmann, der sie 1804 während der Belagerung [falsch übersetzt, sollte Besetzung heißen] des Landes durch die bayrischen und französichen Truppen unter Napoleon um 23.500 Gulden verkauft u.z. an eine Gesellschaft mit 47 Mitgliedern, die zu den reichsten Familien der Stadt gehören; diese Gesellschaft hat die Absicht, im Garten des Hotels ein Theater zu bauen. Die Arbeiten am Theater (heute Upim) beginnen im Februar 1804 und sind im August 1805 abgeschlossen. Das Projekt des Theaters stammt von Andrea Caminada aus Rovereto, die Szene von Carlo Ederle, die Fresken von Domenico Zeni. Das Theater hat 800 Plätze. Es besteht aus einem Parkett, einer doppelten Reihe von Logen mit insgesamt 33 und einer Galerie. Die meisten Logen sind den Mitgliedern vorbehalten. Die Zentralloge gebührt den angesehenen Persönlichkeiten und der Merkantilmagistrat kauft eine Doppelloge um 1100 Gulden. Die Theatersaison wird im September 1805 mit der Oper «Pamela nubile» eröffnet.”
“Um eigene Trauben Und eigenen Wein für den Hausgebrauch Zu haben, muss man zweitens auch In Gries oder in den Zwölfmalgreien Mit einem Höfl begütert sein.”
Der Gscheibte Turm (Burgreste Troyenstein) wie immer im Mittelpunkt und links darüber der Egghof. Darstellung wahrscheinlich aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Um die Deckung des obgenannten Eigenbedarfes mussten sich die Kinseles wahrlich keine Sorgen machen, so üppig waren ihre Weingartenflächen in Bozen, Zwölfmalgreien und Gries schon in der Gründergeneration. Als Franz Xaver Kinsele, der auch immer wieder als Franz von Sales Kinsele bezeichnet wird, 1812 stirbt, hinterlässt er u.a.:
Wer hat noch nie von den Bozner Seligkeiten, acht an der Zahl, gehört? Karl Theodor Hoeniger hat ihnen mit dem 1933 im “Altbozner Bilderbuch” erschienenen Gedicht ein bleibendes Denkmal geschaffen.
Die Aufzählung dieser Voraussetzungen für ein vollständig erfülltes Bozner Bürgerleben eignet sich sehr gut, um den in kürzester Zeit erfolgten wirtschaftlichen und sozialen Aufstieg der Kaufherrenfamilie Kinsele darzustellen.
“Als erste muss man unter den Lauben Ein Haus besitzen.”
Eine zentrale Rolle im Leben und Wirken eines Bozner Kaufherrens – und das war das angestrebte Ideal – spielte dabei das Laubenhaus, ein Haus in der Stadtgasse, entweder unter den “deutschen [südseitigen] oder welschen [nordseitigen] Gewölben”, wie auch die offizielle Adresse lautete. Um den urbanistischen und den damit eng verwobenen gesellschaftlichen Rahmen besser zu verstehen, in dem sie sich auch diese Familie bewegte, lasse ich gerne Hannes Obermaier, ehemaliger Leiter des Stadtarchivs Bozens, zu Worte kommen:
Julius Perathoner (1849 bis 1926) war nicht ein Teil der Kinseleverwandschaft aber doch sehr zumindest mit einem von ihnen sehr verbunden: Anton Kinsele (1865 bis 1946) arbeitete zusammen mit Perathoner in der gemeinsamen Anwaltskanzlei am Bozner Obstmarkt. Anton Kinsele war auch unter Perathoner Stadtrat in Bozen und blieb sogar nach der Machtergreifung der Faschisten im Rahmen der Möglichkeiten ein politisch agierender Mensch (ihm werden noch einige Beiträge gewidmet werden).
Nachdem Julius Perathoner ganz stark ein (Vorzeige-) Kind seiner Zeit war, das Umfeld der vorletzten Kinsele-Generation auch am Ritten wesentlich beeinflusst hat und zudem erst vor ein paar Tagen der bemerkenswerte Beitrag im RAI Sender Südtirol ausgestrahlt wurde, wollte ich die dessen Aufzeichnung der geschätzten Leserschaft nicht vorenthalten.
In diesem Beitrag verwendete Literatur- und Bildquellen:
Es gibt Ereignisse, welche für einen selbst eigentlich ziemlich unbedeutsam sind, bar jeder Wichtigkeit, und trotzdem bleiben sie uns aus einem unbekannten Grund im Gedächtnis erhalten. So eine Episode war die in meiner späteren Jugend vernommene Nachricht – ich lebte noch in Bozen –, dass der Stadtrat das historische Stadtwappen mit dem sechszackigen Stern auch formell wieder eingeführt hatte (21.4.1988). Während der faschistischen Periode hatte nämlich der fünfzackige “Stellone d’Italia” den sechszackigen “Stella Maris”-Stern, ein Bezug auf die Stadtpatronin, der Hl. Maria, ersetzt. Ab da an habe ich eigenartigerweise immer wieder die mir neu im Stadtbild unterkommenden Wappen bewusst im Hinblick auf die Sternformen angeschaut.
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